Mittwoch, 17. August 2011

Biblisch?

In seinem Kommentar zum Neuen Testament weist William MacDonald auf folgendes hin:
»Das NT kennt viele Fälle von gerechtfertigtem Gericht über den Zustand, das Verhalten oder die Lehre anderer. Außerdem gibt es verschiedene Gebiete, auf denen dem Christ sogar befohlen ist, eine Entscheidung zu treffen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden oder zwischen dem Guten und dem Besten.« [1]
Leider erleben wir es heute oft, dass leichtfertig und wenig gründlich beurteilt wird - wenn überhaupt. Das Attribut „christlich“ reicht oftmals aus, damit die Wachsamkeit nachlässt. Dinge werden als „biblisch“ oder „christlich“ anerkannt. Dabei bedeutet dieselben Begriffe und Wendungen zu verwenden nicht zwangsläufig auch dasselbe damit zu meinen. Einige Beispiele sollen hier exemplarisch genannt werden.

Das Wort Gottes

Die Reformation ging zurück auf die Schrift allein (sola scriptura) und die uneingeschränkte Autorität und Kraft der Schrift. Demgegenüber steht die Römisch-katholische Definition:
»Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes.« [2]
Vereinfacht lässt sich sagen: Dort wo der überzeugte Katholik vom „Wort Gottes“ redet, kann „die Heilige Schrift“ aber auch – absolut gleichwertig – „Die Heilige Überlieferung“ gemeint sein. Wir müssen begreifen, dass nicht überall wo in christlichen Kreisen vom „Wort Gottes“ geredet wird automatisch die Bibel gemeint ist.

"Wahrhaftig auferstanden" bei Bultmann
Eine weitere Sache finden wir bei dem Bibelkritiker Rudolf Bultmann. In einem Interview mit SpiegelOnline führt Johannes Joachim Degenhardt aus:
»SPIEGEL: Für Drewermann und Bultmann ist es kein Widerspruch, an die Auferstehung zu glauben und zu sagen, das Grab Jesu sei sowenig leer gewesen wie das Grab irgendeines anderen Menschen.
DEGENHARDT: Für Bultmann ist Christus auferstanden in das Kerygma, in den Glauben der Urgemeinde.« [3]
Um zu verstehen was hier gesagt wird nochmals eine vereinfachte Erklärung. Das Zeugnis der „wahrhaftigen Auferstehung Jesu Christi“ wäre für Bultmann kein Problem gewesen. Erst in der Nachfrage wäre deutlich geworden, dass Bultmann hier mitnichten ein historisch-faktisches Ereignis verbindet, sondern die „wahrhaftige Auferstehung“ nur im Kerygma, also allein der Verkündigung sieht. Lothar Gassmann schlussfolgert zurecht:
»Bultmanns Theologie ist eine auf die Bibel angewandte Philosophie«. Und: »Bei Bultmann jedenfalls können geschichtliche Texte nur subjektiv-existentiell verstanden werden.« [4]
"Evangelisation in der Postmoderne"
Ein drittes Beispiel liefert Wolfgang Nestvogel in seinem Buch „Evangelisation in der Postmoderne“. Er resümiert über ProChrist 2003:
»Die wichtigen Themen des Evangeliums (Sünde, Umkehr, Vergebung, Kreuz) kommen alle »irgendwie« vor, dennoch bleiben zentrale Inhalte im Unklaren. Der erfahrene Christ hört die Begriffe und Andeutungen und kann sie mit den dazugehörenden Lehren verbinden, die er vorher schon kannte. Darum wohl haben viele Christen die Verkündigung als klar und biblisch empfunden, »schließlich hat er doch immer über Sünde, Hinkehr zu Jesus und die Wichtigkeit des Bibellesens gesprochen«. Der Nichtchrist muss aber den Inhalt, das Konzept des Evangeliums erst einmal kennen lernen, deshalb benötigt er eine präzise und klare Erläuterung der sachlichen Zusammenhänge.
Die Notwendigkeit solcher Klarheit und Präzision ist keine akademische Forderung, sondern schlichtes Gebot der seelsorgerlichen Liebe und des Gehorsams gegenüber Gottes offenbarter Wahrheit.« [5]
Bruder Nestvogel legt in seinem Buch sehr eindrücklich dar, wie er zu dieser Beurteilung kommt und es sei jedem ans Herz gelegt. Gerade in diesem Buch wird die Diskrepanz zwischen dem „klar und biblisch“ empfinden (!) und dem objektiven Fehlen zentraler Inhalte sehr deutlich aufgezeigt.

Umdeutung durch Psychologie
Rudolf Ebertshäuser kommt in anderem Zusammenhang zu dem Schluss:
»Ganz unmerklich verschieben sich die Maßstäbe, werden klare geistliche Aussagen der Bibel durch schillernde psychologische Begriffe ersetzt. War es früher für bibeltreue Christen klar, dass die Sünde, die sündige, verderbte, von Ichsucht und Rebellion geprägte menschliche Natur die Quelle alles Übels der menschlichen Existenz ist, so erwecken die „christlichen“ Psychologen den Eindruck , das Grundübel seien die Verletzungen und Demütigungen die dem seelischen Ichleben zugefügt werden.« [6]
Auch hier muss wieder die Frage gestellt werden, wie die Begrifflichkeiten letztlich die klaren biblischen Maßstäbe überdecken können.

Bibeltreu oder "bibeltreu"?
Abschließend noch einen Bericht aus den Betanien-Nachrichten aus dem Jahr 2003:
»Seit fast drei Jahren sorgte eine Streitfrage für Spannung innerhalb der "Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten" (KBA), die 31 theologische Ausbildungsstätten umfasst. An den drei Ausbildungsstätten Chrischona, Tabor, Liebenzell (CTL) wird unter "bibeltreu", zum Teil verstanden, "die Bibel so zu nehmen wie sie ist - mit ihren Fehlern". Gleichzeitig wird behauptet, der Standpunkt der Irrtumslosigkeit der Bibel, wie in der Chicago-Erklärung ausgedrückt, sei nicht bibeltreu, da die Bibel selbst keine Irrtumslosigkeit beanspruche und man mit diesem Anspruch über die Bibel hinausgehe. Die Ansicht von CTL wurde als "Hermeneutik der Demut" bekannt und von einigen Theologen der KBA als nachweislich gemäßigte Bibelkritik entlarvt.

Dieser Streit wurde nun auf einer Mitgliederversammlung der KBA beigelegt. Die bisher offiziell vertretene Überzeugung von der Inspiration und Unfehlbarkeit der Bibel, deren Bekenntnis Bedingung zur Mitgliedschaft in der KBA ist, wurde bekräftigt, jedoch wurden sowohl die "Hermeneutik der Demut" als auch die "Chicago-Erklärung" beide als bibeltreue Standpunkte akzeptiert, die nicht der versteckten oder gemäßigten Bibelkritik verdächtigt werden dürfen.« [7]

Ein Fazit
Es gäbe noch andere Beispiele über die Umdeutung oder Substitution von Begriffen. Es sollte aber auch so deutlich geworden sein, dass dort tragende Säulen umgeworfen wurden, wo beispielsweise gemäßigte Bibelkritik als „bibeltreu“ gekennzeichnet wird. Das fehlende Unterscheidungsvermögen das hinsichtlich solcher Vorgänge unter Christen vorherrscht ist durchaus besorgniserregend. Dabei weiß der Autor dieser Zeilen durchaus um die eigenen Irrtümer seines Glaubenslebens. Aber vielleicht muss man (einiger) dieser Irrtümer erst einmal gewahr werden, um eine falsche – auf die eigene Menschenweisheit bauende – Selbstsicherheit zu verlieren. So mancher Gläubige ist gerade in Bezug auf das Vertrauen auf sich selbst und sein Urteilsvermögen gefallen.
Das Wort Gottes fordert uns auf:
»Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.« Römer 12,2; ElbCSV
Wäre unser Gebet anhaltender darin, dass Gott unseren Sinn beständig erneuern möge und unser selbstsüchtiger Widerstand dagegen geringer, so wären wir fähiger zu prüfen und treuer darin den guten, wohlgefälligen und vollkommenen Willen Gottes zu tun!

Quellennachweis:
[1] William MacDonald, Kommentar zum Alten und Neuen Testament, 2. Auflage, Gesamtausgabe – Band 1 und 2, 1997, CLV, Bielefeld
[2] Quelle: vatican.va, Dokumente des II. Vatikanischen Konzils
[3] SpiegelOnline, Den Glauben abfragen wie Vokabeln?, 16.03.1992
[4] Lothar Gassmann, „DietrichBonhoeffer, Karl Barth, Rudolf Bultmann, Paul Tillich“ – Die einflussreichsten evangelischen Theologen der Neuzeit und ihre Lehren auf dem Prüfstand, Fromm Verlag, 2011
[5] Wolfgang Nestvogel, Evangelisation in der Postmoderne, Wie Wahrheit den Pluralismus angreift…, 1. Auflage 2004, CLV, Bielefeld; Hervorhebung von mir
[6] Rudolf Ebertshäuser, Die Charismatische Bewegung im Licht der Bibel, 2., durchgesehene Auflage 1998, CLV, Bielefeld.
[7] Betanien-Nachrichten, www.betanien.de, Ausgabe Nr. 9 vom 15. Dezember 2003